SuchtMagazin Nr. 6/2013

Zukunft der Suchtforschung

Suchtforschung macht Gesundheitspolitik | Suchtkonzept: Starker Konsum oder Substanzstörung? | 20 Jahre ISGF | Sucht und Psychiatrie | Stationäre Suchttherapie in der Zukunft | Suchtforschung: Selbstzweck oder Problemlösung? | Die Viersäulenpolitik aus Sicht der Forschung | Medikalisierung sozialer Probleme | Alternativen zur Drogenkontrolle

Artikel in dieser Ausgabe

Suchtforschung macht Gesundheitspolitik

Die ISGF-Jubiläumskonferenz diskutierte die Zukunftsfragen der Suchtforschung. Aus politischer Sicht braucht es für eine optimale Zusammenarbeit von Wissenschaft, Praxis und Politik ein kohärentes Denkmodell. Public Health ist ein solches. Es konzipiert Sucht als Teil der Gesundheitspolitik und vermittelt zwischen individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnissen. Damit Public Health in eine Suchtpolitik überführt wird, die sich an Menschen und sozialen Realitäten orientiert, braucht es aber dreierlei: konzeptionelle Offenheit, eine politisch relevante Wissenschaft und eine gesunde Balance zwischen Humanismus und Realpolitik. So bleibt Drogenpolitik aktuell – und auf der politischen Agenda.

20 Jahre Schweizer Institut für Sucht- und Gesundheitsforschung ISGF

Das heutige Schweizer Institut für Sucht- und Gesundheitsforschung ISGF entstand aus einer nationalen und lokalen Krise im Zusammenhang mit dem sprunghaft angestiegenen intravenösen Drogenkonsum und der damit verbundenen Aids-Epidemie. Die Umsetzung einer innovativen Drogenpolitik schuf einen Bedarf an konzeptioneller und evaluativer wissenschaftlicher Arbeit, um neue Ansätze verfügbar zu machen. Die weitere Entwicklung des Instituts folgte den sich verändernden Suchtproblemen, aber auch dem veränderten Selbstverständnis der SuchtmittelkonsumentInnen und den Zugangswegen zu diesen. Die Arbeit des Instituts blieb lokal, national und international gefragt, bei intensiver auch institutioneller Vernetzung.

Starker Konsum oder Substanzstörung? Überlegungen zum Suchtkonzept

Substanzkonsum versursacht akute und chronische gesundheitliche Schäden sowie soziale Probleme und ist Auslöser für substanzbezogene Störungen. Zur Bestimmung problematischen Konsumverhaltens werden der Risikoansatz von Konsum und dessen Folgen (Dosis-Wirkungsverhältnis) der Diagnostik substanzbezogener Störungen gegenübergestellt. Dargelegt wird, warum das Konzept «starker Konsum» ohne das Konstrukt «Sucht» oder «Abhängigkeit» auskommt, sowie Stigmatisierung verhindern und die Erreichbarkeit Gefährdeter und Behandlungsbedürftiger erhöhen könnte.

Zur Leseprobe

Sucht und Psychiatrie – auf der Suche nach klaren Verhältnissen

Die Psychiatrie als Institution und Fach hat für Suchtkranke nur begrenzt Engagement gezeigt. Manchmal war sie sogar Teil des Problems der Ausgrenzung und Stigmatisierung. Das Versorgungssystem für Süchtige bildete sich hauptsächlich ausserhalb der Psychiatrie in einem eigenständigen System aus. Zu den grossen Veränderungen der Behandlung trugen einzelne Psychiater zwar bei, an der Marginalisierung in der Versorgung änderte das aber wenig. Erst mit der Debatte um die Komorbidität seit den 1980er-Jahren und dem DSMIII-R öffnete sich die Psychiatrie der Realität einer überwiegenden Koinzidenz von Sucht und psychischen Störungen. Am Beispiel der Versorgung Suchtkranker verdeutlicht sich ein generelles Problem der Psychiatrie, das wesentlich über seine Rolle und Zukunft mitentscheiden wird. Ist die Psychiatrie bereit, die Bedürfnisse der PatientInnen zum Ausgangspunkt der Versorgung zu machen und die notwendigen Veränderungen einzuleiten wie bspw. die Integration der Suchttherapie in das psychiatrische System?

Normalisierung und Verschiedenheit. Zur Pathologisierung sozialer Probleme

Wurde störende Verschiedenheit lange Zeit mit der Begründung der Krankhaftigkeit oder Abnormalität systematisch bekämpft, wird seit Mitte des letzten Jahrhunderts in zunehmendem Masse die Medikalisierung sozialer Problemlagen als Mittel der Disziplinierung eingesetzt. Als neue Disziplinierungsnorm gilt nicht mehr die Orientierung an der gesellschaftlichen Homogenität in einem bestimmten Territorium des Einflusses, sondern jene des vernünftigen Pluralismus, der sich territorial kaum mehr fassen lässt.

Ethnographien zur Medikalisierung komplexer Problemlagen

Posttraumatische Belastungsstörung als medizinische Kategorie und Traumatisierung in ihrer popularisierten Verwendung sind zu zentralen Referenzrahmen einer zunehmenden Medikalisierung komplexer Problemlagen geworden. Dies führt im Migrationskontext zu pathologisierenden und moralisierenden Formen des Einschlusses und Ausschlusses von «Andersartigkeit» im Duktus von «echten» und «falschen» Flüchtlingen.

Stationäre Suchttherapie heute und morgen – Chancen und Herausforderungen

Der aktuelle Finanzdruck, die Medizinalisierung der Suchthilfe und veränderte KlientInnenbedürfnisse stellen die stationäre Suchttherapie vor besondere Herausforderungen. In einem Workshop im Rahmen des Jubiläumskongresses «Zukunftsfragen der Suchtforschung» beschäftigten sich Fachleute mit der Frage, welche Anforderungen dringlich sind und wie sich die stationäre Suchttherapie in diesen Spannungsfeldern positionieren soll.

«Es ist noch längst nicht alles gesagt – das aber von fast allen!»

Der Vortrag von Marina Davoli «Which way goes addiction research in and for the EU?» legte den Finger in die Wunde: Suchtforschung ignoriert oft die relevanten Fragen der Stakeholder und produziert nachweislich zu viel «Müll».

Auswirkungen der Schweizer Drogenpolitik aus Sicht der Suchtforschung

Die bewährte Viersäulenpolitik ist seit 2011 zusammen mit der heroingestützten Behandlung im Betäubungsmittelgesetz verankert und die Arbeitsteilung zwischen Bund und Kantonen darin geregelt. Die Cannabispolitik hingegen ist gescheitert. Probleme bestehen in der ungleichen Versorgung mit wissenschaftlich nachweislich wirksamen Behandlungsoptionen und niederschwelligen Angeboten auf kantonaler und regionaler Ebene. Ob den im Gesetz verankerten Verbesserungen des Jugendschutzes und dem Ordnungsbussenmodell für Cannabis eine Senkung des Drogenkonsums bei Jugendlichen folgt, muss evaluiert werden.

Internationale Abkommen zur Drogenkontrolle und mögliche Alternativen

Internationale Abkommen zur Einschränkung der illegalen Produktion, des Handels und der nicht-medizinischen Verwendung von illegalen Substanzen bilden die Grundlage der weltweiten Massnahmen zur Drogenkontrolle. Robin Room von der Universität in Melbourne, Australien, hat in seinem Vortrag «Are there options beyond the UN conventions?» die längerfristigen Auswirkungen und Grenzen der derzeitigen Abkommen aufgezeigt und diskutiert. Insbesondere sprach er sich für eine Aufnahme der Substanz Alkohol in das internationale Regelwerk sowie für mehr nationale Freiheiten zur Prüfung möglicher Alternativen zu den geltenden prohibitorischen Massnahmen aus.

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